Flavius Josephus

Flavius Josephus war Geschichtsschreiber während des Jüdischen Aufstands gegen Rom von 66 - 70 n.Chr. (dieser ging als Erster jüdischer Krieg in die Geschichte des römischen Imperiums ein). Flavius Josephus gilt als einer der wichtigsten Autoren des Hellenistischen Judentums. Um das Leben der Essener aus der Sicht eines damaligen Zeitgenossen vorstellbarer zu machen, zitieren wir für Interessierte aus den Werken des Flavius Josephus.

Flavius Josephus' Jüdische Altertümer. Achtzehntes Buch, 1. Kapitel:

Bei den Juden gab es schon seit langer Zeit drei philosophische Sekten, nämlich die der Essener, Sadducäer und Pharisäer:

Die Essener lehren, man müsse alles dem Willen Gottes anheimgeben. Sie glauben an die Unsterblichkeit der Seele und halten den Lohn der Gerechtigkeit für das erstrebenswerteste Gut. Übrigens sind es Menschen von vortrefflichen Sitten, und sie beschäftigen sich bloß mit Ackerbau. Ganz besonders bewunderungswürdig und lobenswert aber sind sie wegen einer bei den Griechen und den anderen Völkern völlig unbekannten, bei ihnen jedoch nicht etwa erst seit kurzer Zeit, sondern schon seit vielen Jahren herrschenden ausgleichenden Gerechtigkeit, infolge deren sie vollkommene Gütergemeinschaft haben und dem Reichen nicht mehr Genuß von seinen Gütern lassen wie dem Armen. Nach dieser Lehre leben über viertausend Menschen. Sie heiraten ebensowenig, als sie Knechte halten, da sie das letztere für Unrecht, das erstere aber für die Quelle alles Streites halten, und so leben sie abgesondert und dienen einer dem andern.

Flavius Josephus: Der Jüdische Krieg, II. Buch, 8. Kapitel

Über die Essener:

Bei den Juden gibt es nämlich ... die Essener, von denen allgemein behauptet wird, daß sie sich tatsächlich um eine besondere Selbstheiligung bemühen. Es sind der Abstammung nach Juden, die sich jedoch in besonderem Grade einander verbunden fühlen. Sie lehnen jede sinnliche Lust ab und sehen darin eine Sünde, während sie die Enthaltsamkeit und den Widerstand gegen die Begierden als Tugend erachten ...

Den Reichtum verachten sie, und ihr Gefühl für die Gemeinschaft ist bewundernswert. Man findet bei ihnen auch niemand, der mehr besitzt als die anderen, denn nach ihrem Gesetz müssen jene, die sich ihrer Sekte anschließen wollen, ihr Hab und Gut an die Gemeinschaft übertragen! Auf diese Weise trifft man bei ihnen weder auf erniedrigende Armut noch auf Reichtum, der überheblich macht, vielmehr wird der gesamte Einzelbesitz zu einem einzigen brüderlichen Gemeingut ... Die Verwalter des Gemeinguts werden durch Handaufheben gewählt, während einer wie der andere zum Dienst an der ganzen Gemeinschaft bereit sein muß.

Sie konzentrieren sich auch nicht auf eine einzelne Stadt, sondern sie sind in großer Anzahl auf alle Städte verteilt. Essener, die anderswoher kommen, können über den ganzen Besitz der betreffenden örtlichen Gemeinschaft verfügen wie über ihren eigenen Besitz, und bei Leuten, die ihnen früher völlig unbekannt waren, gehen sie aus und ein wie bei alten Bekannten. Deshalb reisen sie auch ohne jedes Gepäck ... Allerorten wird für die Gäste ein besonderer Betreuer aufgestellt, der für Kleidung und sonstige Bedürfnisse zu sorgen hat ... Schuhe und Kleidung wechseln sie nicht, bevor sie völlig zerfetzt und abgetragen sind. Untereinander kaufen sie und verkaufen sie nichts; wer etwas braucht, dem gibt ein jeder von dem Seinen und bekommt auch wiederum das von jenem, was er benötigt; und sogar ohne Gegenleistung kann man von jedem Beliebigen sich das Nötige aneignen.

Ihre Gottesverehrung äußert sich auf eine eigenartige Weise. Vor Aufgang der Sonne reden sie nämlich kein unheiliges Wort, sondern sie richten an dieses Gestirn einige von den Alten überkommene Gebete, als flehten sie darum, die Sonne möge aufgehen. Dann werden sie von den Vorstehern ausgesandt, ein jeder zu dem Tun, das er versteht. Wenn sie dann bis zur fünften Stunde mit Hingabe gearbeitet haben, finden sie sich wieder an einem bestimmten Platz ein, binden sich eine Leinenschürze um und waschen sich mit kaltem Wasser. Nach. dieser Waschung gehen sie zusammen in ein besonderes Gebäude, zu dem kein Andersgläubiger Zutritt hat. Sie selbst verfügen sich nun gewissermaßen ‘gereinigt’ in das Refektorium wie in einen heiligen Raum. Ohne ein Wort zu reden, nehmen sie Platz, dann tischt ihnen der Bäcker der Reihe nach Brote auf, und der Koch bringt jedem eine Schüssel mit einem einzigen Gericht. Vor Beginn der Mahlzeit verrichtet ein Priester ein Gebet, und es wäre gesetzwidrig, zuvor das Essen anzurühren. Nach dem Mahle wird wieder gebetet, und am Anfang wie am Ende preisen sie Gott als Spender der Lebensnahrung. Dann legen sie die Kleider, die für sie gewissermaßen heilig sind, wieder ab und widmen sich bis zum Abend weiterhin ihrer Arbeit. Wieder zurückgekehrt speisen sie nochmals in der gleichen Form, doch zusammen mit den Gästen, wenn sich welche eingefunden haben. Weder Geschrei noch sonstwelcher Lärm stört je die Weihe des Hauses, sondern sie geben einander das Wort, wie es sich der Reihe nach fügt. Den Menschen draußen aber mutet die Stille drinnen wie ein schauerliches Mysterium an.

Die Essener unternehmen sonst nichts, was ihnen nicht von den Vorstehern aufgetragen wird, und nur in zwei Fällen dürfen sie nach eigenem Ermessen entscheiden, nämlich wenn es gilt, Hilfe zu leisten oder Barmherzigkeit zu üben. Es bleibt ihnen selbst anheimgestellt, dort zu helfen, wo Hilfe nötig ist, und Nahrung zu verabreichen, wo ein Bedürfnis vorliegt ... Den Zorn halten sie unter Kontrolle, Gefühlswallungen zwingen sie nieder, Zuverlässigkeit gilt ihnen viel, für den Frieden tun sie alles. Jedes Wort, das sie sprechen, ist zuverlässiger als ein Eid; zu schwören weigern sie sich, denn sie erachten es schlimmer als einen Meineid; sie sagen nämlich, wer gegen Treu und Glauben verstößt, ist schon gerichtet auch ohne die Zeugenschaft Gottes. In besonderem Maße jedoch widmen sie sich dem Studium dessen, was die Altvorderen aufgezeichnet haben, und dabei achten sie vor allem auf das, was förderlich ist für Leib und Seele. In diesen Aufzeichnungen forschen sie zu medizinischen Zwecken nach Kräutern, die vor Krankheiten schützen, und nach den besonderen Eigenschaften von Mineralien.

Jene aber, die in ihre Sekte aufgenommen werden wollen, können nicht sofort eintreten, sondern sie bleiben ein Jahr außerhalb der Gemeinschaft. Besteht der Kandidat während dieser Zeit die Prüfung der Enthaltsamkeit, so darf er dem Leben der Gemeinschaft nähertreten und darf teilnehmen an den heiligen Bädern, die noch größere Reinheit bewirken; doch erhält er noch keinen Zugang zum Leben in der Gemeinschaft. Denn hat er sich als standhaft erwiesen, so wird er während der beiden nächsten Jahre auf seinen Charakter geprüft, und erst wenn er sich darin bewährt hat, wird er für würdig befunden, in die Gemeinschaft einzutreten. Ehe er jedoch an das gemeinsame Mahl Hand anlegt, schwört er ihnen hochheilige Eide, vor allem die Gottheit zu ehren, sodann Gerechtigkeit zu üben gegen die Menschen und weder aus freiem Antrieb noch auf Befehl jemand zu schädigen, stets jedoch die Ungerechten zu hassen und die Gerechten in ihrem Kampf zu unterstützen, immer die Treue zu bewahren gegen jedermann, vor allem gegen die Obrigkeit, da niemand Macht habe, sie sei denn von Gott. Und müsse er selbst einmal eine Anordnung treffen, so werde er seine Macht nie mißbrauchen und weder in der Gewandung noch in der Verwendung von mehr Schmuck die Untergeordneten zu überragen suchen. Immer werde er die Wahrheit lieben und sich vornehmen, die Lügner zu entlarven. Die Hände wolle er reinhalten von Diebstahl und die Seele von sündhaftem Gewinn, und vor den anderen Sektenmitgliedern werde er kein Geheimnis haben und an andere werde er nichts über sie preisgeben, auch wenn es um Leben oder Tod gehe. Außerdem schwört er, die Regeln der Gemeinschaft keinem in anderer Weise mitzuteilen, als er sie selbst übernommen, sich reinzuhalten von Raub und die Schriften der Sekte wie die Namen der Engel in Ehren zu halten. Mit Eidesleistungen dieser Art verschaffen sich die Essener Sicherheit hinsichtlich ihrer Novizen.

Geht es um gerichtliche Entscheidungen, so verfahren sie äußerst genau und gerecht, und das Urteil ergeht erst, wenn die Mindestzahl von hundert Essenern zugegen ist. Dann freilich ist das Urteil unabänderlich. Nächst Gott verehren sie aber im höchsten Maße den Namen des Gesetzgebers, und wer ihn nicht ehrt, wird mit dem Tode bestraft. Sie halten es für wichtig, sich den Älteren und der Mehrheit zu fügen; z. B. könnte in einem Kreis von zehn Männern keiner zu sprechen anheben gegen den Willen der restlichen neun. Sie hüten sich, inmitten von anderen oder nach der rechten Seite hin auszuspeien, und sie weigern sich, allen voran die Juden, am siebten Wochentag irgendeine Arbeit anzurühren. Denn sie richten nicht nur Tage zuvor ihre Nahrung zu, um an dem besagten Tag kein Feuer machen zu müssen, sondern sie getrauen sich nicht einmal, irgendeinen Gegenstand von der Stelle zu bewegen, ja selbst ihre Notdurft zu verrichten. An den übrigen Tagen aber schlagen sie mit einer Hacke - von dieser Art ist nämlich die kleine Axt, die ein jeder bei seinem Eintritt erhält - ein Loch in den Boden, einen Fuß tief, hüllen sich in ihren Mantel, um den strahlenden Glanz Gottes nicht zu verunehren, und entleeren sich dorthinein. Dann schaufeln sie die aufgeworfene Erde wieder in die Grube. Zu diesem Zweck suchen sie möglichst abgelegene Plätze auf. Obgleich die Entleerung des Körpers etwas ganz Natürliches ist, pflegen sie sich hernach zu waschen, als hätten sie sich beschmutzt.

Sie erreichen ein hohes Lebensalter, so daß die meisten über hundert Jahre alt werden, offenbar da sie ein sehr einfaches und wohlgeordnetes Leben führen. Für erschütternde Vorkommnisse haben sie nur Verachtung, Schmerzen überwinden sie durch ihre seelische Haltung und den Tod ziehen sie einem Leben ohne Ende vor, wenn er sich naht in Begleitung des Ruhmes. Alle diese Charaktereigenschaften zeigten sich besonders im Krieg gegen die Römer; man folterte sie auf jede Weise, man brannte sie, zerschmetterte sie und zerrte sie durch alle Marterstätten, daß sie entweder den Gesetzgeber lästern oder Verbotenes essen sollten, aber sie verharrten unbeugsam und ließen sich weder zum einen noch zum anderen zwingen, auch nicht zu schönen Worten für ihre Henker oder zu Tränen. In ihrer Pein fanden sie noch ein Lächeln, spotteten ihrer Folterknechte und schieden voll Bereitschaft aus dem Leben, als würden sie es wieder empfangen.

Denn mit allem Nachdruck sind sie davon überzeugt, daß der Körper wohl vergehe und daß das Stoffliche nicht von Dauer sei, daß jedoch die Seelen unsterblich seien für immer und ewig. Von den Seelen glauben sie, daß sie, aus dem feinsten Äther hervorgegangen, sich zusammenfügten und durch irgendeinen natürlichen Vorgang der Anlockung herabgeholt worden seien. Und wenn sie dann von den Fesseln des Fleisches befreit würden, dann fühlten sie sich wie aus langer Haft entlassen und erhöben sich in seliger Freude wieder nach oben. Sie sind nämlich des Glaubens, die Guten würden während ihres irdischen Daseins durch die Hoffnung auf Ruhm nach ihrem Tode noch besser und der Anreiz für die Bösen lasse sich durch Furcht beseitigen, da sie damit rechnen müßten, ewiger Strafe anheimzufallen, auch wenn sie in diesem Leben unbehelligt blieben. Das also ist die essenische Theologie der Seele, und wer einmal von ihrer Weisheit kostet, in dem haftet diese wie ein Köder, von dem er sich nicht mehr befreien kann.

Es gibt aber bei ihnen auch Leute, die vorgeben, die Zukunft vorauszukennen, nachdem sie sich von Jugend an zutiefst mit heiligen Büchern, mit mancherlei Reinigungsriten und Prophetien befaßt haben. Tatsächlich passiert es selten, daß sie in ihren Weissagungen irren.